Resumen |
Gerstenbergs Visuelle Enzyklopädie Was bedeutet Neuzeit ?\Als die Menschen in Europa während des 15. Jahrhunderts begannen, ihre Gegenwart als etwas Neues, als Neuzeit, zu begreifen, konnten sie dies nur, indem sie der Neuzeit ein Mittelalter entgegensetzten, eine Zwischenzeit zwischen der Gegenwart und der griechisch-römischen Antike. Sie wollten an der Antike wieder anknüpfen und betrachteten das Mittelalter als eine Art Betriebsunfall der Geschichte. Was aber faszinierte sie so an der Antike?\Natürlich waren es die gigantischen Ruinen in Rom und an anderen Orten, die sie an vergangene Macht und Größe erinnerten, an technische Leistungen, die zu wiederholen noch große Anstrengungen erfordern würde. Mehr aber als das bewunderten sie den Universalismus des römischen Weltreichs, die Tatsache, dass damals das gleiche Recht in einem einheitlichen Staat herrschte, der die ganze bekannte Welt umfasste - ganz anders als in ihrer zersplitterten und zerrissenen Welt von Städten, Fürstentümern und winzigen Herrschaften, deren jede eine kleine Welt für sich sein wollte. Und dem politischen Universalismus, wussten sie, entsprach in der Antike eine Wissenschaft, die ebenso universal war, die von ewigen, dank der Mathematik für alle Menschen nachvollziehbaren Gesetzen des Universums wusste und davon, dass die Erde nachweislich eine Kugel war, die man als Ganze auf dem Seeweg umfahren konnte.\Das, was die frühe Neuzeit Europas ausmachte - die Rückbesinnung auf die Antike, der Anfang der modernen, auf die Gesetze der Mathematik zurückgreifenden Naturwissenschaft, die Bereitschaft, den ganzen Globus zu entdecken -, gehört also zusammen. In diesem Band werden diese Neuerungen als erste Globalisierung zusammengefasst, um daran zu erinnern, dass die Globalisierung, von der heute, in einer Zeit, in der die Nationalstaaten aufhören, eine entscheidende Rolle zu spielen, so oft die Rede ist, bereits damals begonnen hat. Diese Verbindung des Beginns der Neuzeit in Europa mit unserer Gegenwart ist es, die es bis heute rechtfertigt, von der Neuzeit als einer historischen Einheit zu sprechen.\Der Beginn der Neuzeit\Gemeinhin lassen die Historiker die Neuzeit entweder mit der italienischen Renaissance zu Beginn des 15. Jahrhunderts, mit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus 1492 oder mit dem Beginn der Reformation Luthers im Jahr 1517 anfangen. Tatsächlich ist die frühe Neuzeit ohne die Wiederentdeckung der Antike in der Renaissance und in der intellektuellen Strömung des Humanismus nicht zu denken. Ebenso wenig kann man sie sich ohne den Aufbruch des Seehandels über alle Weltmeere vorstellen, der mit den kühnen Unternehmungen der großen Entdecker beginnt; der neue Unternehmensgeist ist aber untrennbar verbunden mit einer neuen praktischen, experimentierfreudigen und rationalen Einstellung gegenüber der Natur, wie sie uns in der Wissenschaft zuerst mit dem Werk des Kopernikus entgegentritt. Auch die kopernikanische Wende in der Wissenschaft um 1540 wird als Datum für den Beginn der Neuzeit genannt. Schließlich gehört zur frühen Neuzeit unbedingt auch die religiöse Volksbewegung der Reformation. Von ihr gingen wesentliche Impulse für eine Neubewertung des einzelnen Menschen aus, der von nun an seinem eigenen Gewissen verantwortlich war, wie auch für den Aufbau von Staaten, die ihren Zusammenhalt dadurch fanden, dass sie fest im Bewusstsein und Gewissen ihrer Bürger als eine gottgewollte Institution verankert waren. So verweist die Reformation auch auf den schrittweisen Prozess der Herausbildung von bürokratisch organisierten und die ganze Gesellschaft durchdringenden Staaten, einen Prozess, der erst im Europa der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts zu einem Abschluss gekommen ist und mancherorts bis heute andauert.\Phasen der Geschichte der Neuzeit\Periodisierung nennen die Historiker die Einteilung der Geschichte in einzelne Phasen. Die Einteilung der Neuzeit in Abschnitte ist nicht ganz einfach, da oft mehrere Entwicklungen sich parallel vollziehen, wie die Zeittafel auf den folgenden Seiten deutlich macht. Da stets alle Entwicklungen miteinander verbunden und daher nicht scharf voneinander zu trennen sind, haftet jeder Periodisierung etwas Willkürliches an. Und doch sind solche Ordnungsschemata hilfreich.\In diesem Buch wird das Gemeinsame des Aufbruchs in die Neuzeit, der neue Universalismus der großen Entdeckungsunternehmen und der modernen Wissenschaft, als erste Globalisierung zusammengefasst. Parallel werden der intellektuelle Neuanfang des Humanismus und der Renaissance betrachtet. Die Reformation wiederum leitet in die Zeit der Glaubenskriege in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts über. Die Lehre, die Europa aus diesen Religionskriegen zieht, ist eine doppelte: die Stärkung der Staatsgewalt und die aufklärerische Moral der Toleranz. Französischer Absolutismus und englischer Liberalismus sind insofern die Kehrseiten derselben Medaille. Beide verbindet die Idee einer modernen Rationalität, die sich sowohl in der pompösen Zurschaustellung von Macht äußert, wie sie die Barockkunst hervorgebracht hat, als auch in der stillen Anhäufung von Reichtum bei den frühen Kapitalisten in Holland und England.\In der Epoche des Absolutismus und der Aufklärung bilden sich sowohl die Elemente heraus, die den modernen Verwaltungsstaat ausmachen, als auch die europäische Staatenwelt, die sich im Großen und Ganzen bis heute erhalten hat.\Die Aufklärung verlangte nicht nur den rationalen Staat, sondern mehr und mehr auch die Freiheit und Gleichheit seiner Bürger, die Demokratie. Zuerst wurde diese am Ende des 18. Jahrhunderts mit den Revolutionen in Amerika und Frankreich erreicht. Seit der Zeit Napoleons verband sich die Idee der Demokratie immer stärker mit der der ethnischen Traditionsgemeinschaft, der Nation. Die Demokratiebewegung war umso enger mit der nationalen Bewegung verknüpft, als mit der Industrialisierung, die im frühen 19. Jahrhundert von England auf den Kontinent übergriff, eine neue, viele Menschen umfassende Klasse, die Industriearbeiterschaft, in die Bürgergemeinschaft der Nation zu integrieren war. Im Namen der Nation wurden die Interessengegensätze der gesellschaftlichen Großgruppen überbrückt, um den Preis einer nach außen oft aggressiven nationalen Politik. Im späteren 19. Jahrhundert begann der imperialistische Wettlauf der großen Nationen um ihre Weltgeltung, um ihre Fähigkeit, weniger mächtige Völker zu unterwerfen oder abhängig zu machen. Diese Politik endete in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Der Erste Weltkrieg führte zu einer Schwächung der alten Nationalstaaten in der Zeit zwischen den Kriegen, zum Aufstieg des übernational zu agieren vorgebenden Kommunismus und zur Entstehung des Faschismus, der den aggressiven Nationalismus auf die Spitze trieb. Die politischen Führer der Deutschen, Italiener und Japaner fühlten sich zur Weltherrschaft berufen und trieben ihre Völker dafür in den Zweiten Weltkrieg. An dessen Ende, nach 1945, waren die USA die beherrschende Weltmacht, der nur die kommunistische Sowjetunion eine gleichwertige Militärmacht entgegenzusetzen vermochte, bis auch sie nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 als Weltmacht abdankte. Auch wenn es seitdem nur noch eine einzige beherrschende Großmacht, eben die USA, gibt, so ist die Welt schon lange nicht mehr in erster Linie nationalstaatlich organisiert; die Internationalisierung des Kapitals und schrankenlose Kommunikationsmöglichkeiten haben den Globus vielmehr weiter schrumpfen lassen, tendenziell zu einer einzigen globalen Gesellschaft. Insofern hat sich der mit der frühen Neuzeit beginnende Globalisierungsprozess beinahe vollendet. Aber ob aus dem vielbeschworenen globalen Dorf eine gerecht organisierte und daher friedliche Menschengemeinschaft werden kann, bleibt ungewiss. |